Blühendes Heidekraut und Stille überdecken die grauenvolle Vergangenheit dieses Ortes. Zwischen überwucherten Wachtürmen, Zäunen und Gräbern gehen Menschen entlang. Einige bleiben stehen und legen einen Kieselstein auf ein Grab, andere schweigen und beten. Hier, auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen Belsen in der Lüneburger Heide, starben 52.000 Männer, Frauen und Kinder unter unmenschlichen Bedingungen. Günther Birken, Pfarrer vor Ort, führt interessierte Besucher über das Gelände.
Eine kleine Gruppe Pilger hat sich an der Sühnekirche in Bergen versammelt. Man stellt sich einander vor, tauscht einige Worte, dann spricht Pfarrer Günther Birken das erste Gebet: „Mögest du uns, Herr, Kraft auf diesem Weg geben.“ Noch ahnt niemand, was kommen wird. „Ich bin gespannt“, sagen einige und andere fügen hinzu: „Schön wird es sicher nicht.“ Die meisten waren noch nie in Bergen-Belsen. „Wir gehen jetzt zu den Eisenbahnschienen“, sagt Birken und schnell wandeln sich die anfänglichen Plaudereien in ein unsicheres Schweigen.
Vor über 70 Jahren wurden auf diesen Schienen über 85.000 Männer, Frauen und Kinder unter unmenschlichen Umständen in Viehwaggons nach Bergen-Belsen gebracht, als die SS begann, frontnahe Lager zu räumen. In einem Waggon waren bis zu 100 Häftlinge untergebracht – ohne Wasser, ohne Nahrung und ohne Licht. Einer dieser Waggons steht noch immer hier, die Gruppe geht hinein. Gesprochen wird nicht, nur gebetet. Niemand weiß, wo er stehen soll. Es ist eng, dunkel und auf dem Waggonboden liegen viele Steine, die niemand wagt zu berühren oder versehentlich mit dem Fuß zu verschieben.
„Da vorne könnt ihr schon die Rampe sehen“, sagt der Pfarrer und erklärt, dass der Platz heute noch für militärische Zwecke genutzt werde. Viele schauen irritiert. Gesprochen wird nicht. Noch nicht. Von der Güterverladerampe begann vor vielen Jahren der Fußmarsch der erschöpften Menschen, die in das sechs Kilometer entfernte Lager getrieben wurden. Nach dem langen Transport zuvor überlebten viele Menschen ihn nicht. Heute zieht sich ein weißer Streifen von der Rampe bis zum Eingang des Konzentrationslagers und erinnert an den Todesmarsch. Und hier beginnen die ersten Gespräche. Keine Plaudereien, sondern ernste Überlegungen.
Einige werden hungrig und ziehen ein Brot aus ihrem Rucksack, andere essen Kuchen. Jemand sagt: „Eigentlich werfe ich zu Hause viel zu viel Essen weg.“ Ein anderer meidet die weiße Markierung, während er in ein Stück Kuchen beißt. Niemand findet die passenden Worte, aber alle sind sich einig im Schweigen. Am Ende des Weges, der heute als Fahrradweg genutzt wird, wird eine Straße überquert. Militärfahrzeuge fahren vorbei. Niemand spricht. Pfarrer Birken zeigt auf das ehemalige Nothospital, das von der britischen Armee am 15. April 1945 für die Überlebenden des Konzentrationslagers Bergen-Belsen errichtet worden war. Während die meisten Überlebenden in ihre Herkunftsländer zurückkehrten, blieben hier vor allem Juden und nichtjüdische Polen zurück. Insgesamt lebten hier zeitweilig fast 22.000 Menschen.
Weiter geht es – bis zu den Fundamentresten eines „Desinfektionsgebäudes“. Pfarrer Birken liest Ausschnitte aus dem Tagebuch eines Überlebenden vor: „Wir glaubten nicht, dass es sich um Entlausungen handelt, sondern dass Gas aus den Duschen kommen würde. Wir hörten es über Auschwitz.“ Doch in der sogenannten „großen Entlausung“ wurde die Kleidung der Häftlinge und Kriegsgefangenen mit heißer Luft desinfiziert. Daneben befand sich auch das zentrale Duschbad des Lagers.
An den Haupteingang des ehemaligen Konzentrationslagers erinnert heute nur noch eine Gedenktafel. Mahnmale stehen auf der riesigen Grasfläche verstreut. An manchen brennen kleine Lichter, überall aber blüht die Heide. Es ist noch Zeit bis zur heiligen Messe am Hochkreuz. So nutzen viele die freie Stunde, um in das Dokumentationszentrum zu gehen, wo seit 2006 Dokumente, Filme und Gegenstände verwahrt werden, die von der Gedenkstätte gesammelt wurden. Die Betonwände sind hoch und trotzdem haben viele das Gefühl, erdrückt zu werden. „Mir fehlen die Worte“, flüstert Josephine aus Braunschweig. Und sie fügt nichts mehr hinzu.