Raub der Epihanius Reliquien

Es geschah während einer Nacht im Jahr 962. Finsternis lag über der italienischen Stadt Pavia. Friedlich lagen alle Menschen der Stadt in ihren Betten und schliefen. Alle Menschen? Nein, eine kleine Gruppe von ehrwürdigen Männern, unter ihnen der amtierende Bischof von Hildesheim, Bischof Orthwin, schlief nicht. 

Sie machten sich an den Reliquien des Heiligen der Stadt, Epiphanius, zu schaffen. „Willst Du mit mir kommen?“, soll Bischof Orthwin den Heiligen gefragt haben. „Dann gib mir etwas von deinen Reliquien ab.“ Und tatsächlich ließ sich ein Teil der Gebeine des heiligen Epiphanius lösen. Bischof Orthwin und seine Diebestruppe nahmen die Reliquien flugs mit nach Hildesheim, wo sie sie in einem vergoldeten Schrein in einer Kapelle im damaligen Hildesheimer Dombau aufstellten.

Epiphaniusschrein

Auf der linken Giebelseite des Epiphanius-Schreins, eingerahmt wahrscheinlich von den Heiligen Cosmas und Damian, ist der Stadtheilige von Pavia herausgearbeitet: Bischof Epiphanius mit Krummstab und Buch sowie dem Heiligenschein.

Epiphaniusschrein

Seit der Wiedereröffnung des Hildesheimer Mariendoms steht der Epiphanius-Schrein in einer  Vitrine im Hochchor direkt neben dem Chorraum.

Ehrwürdiger Bischof oder ruchloser Dieb? 

Die erste namentlich klar benennbare Heiligenreliquie des Bistums Hildesheims: Diebesgut? (Das Gründungsreliquiar des Bistums Hildesheims soll Reliquien unklaren Ursprunges enthalten. Eventuell könnte es sogenannte Berührungsreliquien der Gottesmutter Maria enthalten, also Gegenstände, die Maria berührt haben soll.) Der Bischof Orthwin von Hildesheim: ein gemeiner Dieb? So zumindest erzählt es uns eine Schrift von circa 1000 n. Chr., die von einigen Wissenschaftlern dem Autoren Thangmar von Hildesheim zugeschrieben wird.

Um die historischen Zusammenhänge hinter der frühmittelalterlichen Diebesgeschichte zu verstehen, lohnt sich ein Blick zurück in die graue Vorzeit: Die Wurzeln der Heiligenverehrung liegen in der Verehrung der Märtyrer der frühen Christenheit. Viele Prozesse von Märtyrern und ihren Reliquien vollziehen sich ab dem fünften Jahrhundert auch bei als heilig empfundenen Menschen und ihren Gebeinen. Märtyrer waren ursprünglich Zeugen ihres Glaubens vor einem weltlichen Gericht, das sie zum Tode verurteilte wegen ihres Glaubens. Als erster christlicher Märtyrer gilt Stephanus aus der Apostelgeschichte. Das Wort Märtyrer leitet sich vom Griechischen martyrion ab, was wörtlich Zeugnis in einem gerichtlichen Kontext meint. Eine Verehrung von Märtyrern, die sich um ihre Gebeine rankt, ist wissenschaftlich erst ab dem vierten Jahrhundert nachzuweisen und entwickelte sich aus dem allgemeinen Totenkult im damaligen Römischen Reich. Märtyrer wurden an ihren Todestagen durch eine Prozession und eine Art Leichenschmaus geehrt.

Nachdem das Christentum unter Konstantin dem Großen die privilegierte Religion im Reich wurde, stand das Christentum vor der Herausforderung, weiten Teilen der Bevölkerung und auch dem politischen System Anknüpfungspunkte zu bieten. Neuere Forschung geht davon aus, dass in dieser Zeit die Verehrung von Märtyrern extrem wichtig war für die Ausbreitung des Christentums. Die Märtyrerverehrung machte das Christentum lokal für die Menschen vor Ort greifbar und an einer Person erlebbar. Die Verehrung eines Märtyrers war darum immer sehr lokal auf einen bestimmten Verehrungsort bezogen. Die Vorstellung, dass eine christliche Kirche Märtyrergebeine zur Heiligung des Bereiches brauchte, kam auf. Daher entstanden viele Kirchen in der Zeit auf ehemaligen Friedhofsgebieten vor den Toren von Städten. Allerdings gab es auch immer wieder christliche Kritiker der Verehrung von Märtyrern, die diese für heidnisch hielten.

Neue Formen des Märtyrerkultes entstanden im Laufe der Zeit: So wurden nun auch Christen als Märtyrer verehrt, die in einem gewaltsamen Konflikt starben. „Neue“ Märtyrer konnten dadurch produziert werden, weil es nicht mehr wichtig für einen Märtyrer war, von einem Gericht zum Tode verurteilt zu werden. In dieser Zeit wurde auch die „Mobilität“ von den Reliquien von Märtyrern erfunden. Das heißt, Märtyrergebeine konnten von einem Ort zu einem anderen transportiert werden und behielten trotzdem ihre sakrale Bedeutung.

Der Reliquienhandel erreicht seine Blütezeit

In diese Zeit fällt auch die wissenschaftliche sogenannte „Entdeckung“ des Heiligen Landes als Wallfahrtsort und Ort, von dem Reliquien beschafft werden konnten. Ein Handel mit Reliquien entwickelte sich – einige Bischöfe waren Meister des strategischen und politischen Handels mit Märtyrergebeinen. Spätestens im fünften Jahrhundert wurden auch die Gebeine von als heilig empfundenen Menschen wie die Reliquien von Märtyrern verehrt und gehandelt. Oft waren diese Menschen Bischöfe, die von ihren Nachfolgern als heilig ausgerufen wurden.

Dass jemand die Reliquien eines Heiligen um 1000 n. Chr. stehlen konnte wie in der Geschichte um Bischof Orthwin, erscheint wissenschaftlich betrachtet fast ausgeschlossen. Aus einigen schriftlichen Quellen ist bekannt, dass Kirchen in der Antike und dem frühen Mittelalter unter steter Bewachung standen, um vor allen Dingen Brände in der Kirche zu verhindern. Von daher erscheint es unwahrscheinlich, dass Bischof Orthwin die Reliquien des Heiligen der Stadt Pavia ohne Genehmigung des dortigen Klerus mitnahm. Was die davon hatten, ihm Gebeine von Epiphanius mitzugeben? Eine klare Botschaft: Unser heiliger Epiphanius ist so mächtig und heilig, dass Fremde sogar Teile seiner Reliquien mitnehmen, um ihre Kirchen damit auszustatten. Unser Bischof ist so gut vernetzt, dass sogar aus dem hohen Norden andere Bischöfe sich auf seinen Heiligen berufen.

Ein Grund für die Verlegung von Märtyrergebeinen und später auch Heiligengebeinen war seit dem vierten Jahrhundert die Beauftragung durch Gott oder den Märtyrer selbst: In einem Traum wurden Bischöfe dazu aufgefordert, Gebeine von Friedhöfen als Märtyrerreliquien zu identifizieren und entsprechend in die Kirchen zu holen. Da man die Vorstellung hatte, dass diese Gebeine von einem speziellen Schutz umgeben waren, war es nicht möglich, ungestraft die Gebeine zu verlegen. Konnte man also die Gebeine verlegen, hatte man vom Märtyrer dazu die Erlaubnis. Daher auch die Logik in der Geschichte von Bischof Orthwin und den Reliquien von Epiphanius: Dass Bischof Orthwin einen Teil der Gebeine mitnehmen konnte, machte ihn nicht zum Dieb, sondern zum Erfüller des Willen des Heiligen.

Auch das Profil von Epiphanius ist exemplarisch für einen Heiligen dieser Zeit: Als Bischof von Pavia stirbt er im Jahr 497 an einer Erkältung und wird wegen seines tugendhaften Lebens und friedvollen Einflusses auf die Politik seiner Zeit von seinen Bischofs-Nachfolgern als heilig deklariert. Seine Funktion als Stadtheiliger von Pavia macht ihn zu einem Lokalheiligen.

Epiphanius geriet bald in Vergessenheit 

Wer auch immer uns also die Geschichte von Bischof Orthwin erzählt, erzählt uns hier nicht eine spannende Diebesgeschichte, sondern bedient sich völlig gängiger und traditioneller Motive. Und zeigt uns heute, dass im Bistum Hildesheim zu dieser Zeit Gelehrte und Autoren saßen, die so tief greifend gebildet waren, dass sie die antiken Texte kannten und für sich nutzen konnten. Dass Epiphanius und seine Gebeine schon im Mittelalter in Hildesheim immer stärker an Bedeutung verloren, verwundert nicht: Er wurde von den lokalen Heiligen, Bischof Bernward und Godehard, abgelöst, mit denen sich die Gläubigen vor Ort mehr identifizieren konnten.

Unser Bistum: 
Hildesheim, Niedersachsen