Vor 25 Jahren schrieb sich Agnes Rieger aus Bokeloh bei Wunstorf alles von der Seele. Die verantwortungsvollste Zeit ihres Lebens waren vier Monate ab dem 12. Oktober 1945, als sie sich mit ihren jüngeren Brüdern von Schlesien zur Tante ins Münsterland durchschlug.
Zwei Wochen war sie im polnischen KZ Lamsdorf inhaftiert gewesen. Der Vater und die ältere Schwester mussten zurückbleiben, die Mutter war im KZ bereits erschossen worden. Agnes Riegers Erfahrungen sind keine Seltenheit: 1,6 Millionen der aus dem Osten vertriebenen Kinder hatten beide Eltern oder einen Elternteil verloren. Glück hatten die jüngeren Geschwister, wenn eine ältere Schwester die Familie zusammenhielt und sie vor dem Waisenhaus bewahrte.
Einer der schlimmsten Augenblicke: „Mein Bruder Gottfried schrie und schrie und wimmerte schließlich nur noch. Der Fünfjährige hatte sich in seinem Hunger in ein Rosenkohlfeld gestürzt und eine Menge rohes Gemüse verschlungen. Jetzt lag er auf dem Boden des Lagers. Ein Arzt kam, sah ihn an, schüttelte den Kopf und sagte, da sei nichts mehr zu machen“, erinnert sich Agnes Rieger. Die damals 14-Jährige hat am 26. Oktober mit ihren Brüdern Ernst und Gottfried Rostock erreicht. Die drei sind zwei Wochen zuvor in Lamsdorf in einen Güterwaggon gesteckt worden. Das Letzte, was sie bei der Abfahrt vom Vater gesehen haben, war, wie er von einem Polen ins Gesicht geschlagen wurde.
Die 14-jährige Agnes, eine Bauerntochter aus dem schlesischen Steinaugrund (Ligota), will mit ihren jüngeren Brüdern ins Münsterland, nach Bockum-Hövel. Dort wohnt Tante Martha, eine Schwester des Vaters. Sie kann vielleicht weiterhelfen. Bis dahin fahren sie in Güterwaggons, schlafen in Durchgangslagern oder auf Straßen und sind immer auf der Suche nach Essbarem. Vor allem wollen sie einander nicht verlieren. „Wenn man uns trennen will, dann halten wir uns drei ganz fest an den Armen und schreien, so laut wir können“, haben sie miteinander abgemacht.
Jetzt aber kniet die 14-Jährige neben ihrem fünfjährigen Bruder, schluchzt und betet: „Lieber Gott, bitte, bitte, lass ihn nicht sterben!“ Sie ist sich sicher, dass es der Vater ihr nie verzeihen würde, wenn sie den Fünfjährigen nicht lebend durchbringt. „Weine nicht! Du brauchst all deine Kraft. Es sind schon so viele gestorben. Wer weiß denn, ob dein Vater und du selber überleben?“, sagt zu ihr eine Frau Hedwig Jahn – die Einzige, die in einem Vierteljahr des Überlebenskampfes ein gutes Wort für Agnes Rieger hat. Wie durch ein Wunder stirbt der kleine Gottfried nicht. Die große Schwester löffelt ihm Buttermilch ein, die sie irgendwo aufgetrieben hat.
Im Dezember 1945, nachdem sie entlaust, aber Nacht für Nacht von Wanzen gestochen worden sind, geht es weiter: Wenn der kleine Gottfried nicht mehr gehen kann, tragen ihn seine Schwester und Bruder Ernst abwechselnd huckepack. Harmstorf, Stendal, Lübeck, Brunsbüttelkoog, Osnabrück, Münster sind die Zwischenstationen auf dem Weg nach Bockum-Hövel. Zwischendurch werden die Geschwister doch getrennt. Denn Agnes Rieger muss wegen Hungerödemen in ein Krankenhaus. Einigermaßen fit macht sich die große Schwester auf die Suche von Waisenhaus zu Waisenhaus und findet ihre Brüder wieder. Als die drei am 17. Februar 1946 bei Tante Martha in Bockum-Hövel ankommen, trägt Agnes Rieger noch ihre Holzschuhe aus dem Lager Lamsdorf. Die Schuhe ihrer Brüder sind ein mit Bindfäden zusammengeknotetes Flickwerk aus Lappen und Stücken eines Fahrradreifens. Aber die Geschwister sind angekommen.
Am 6. Juli 1946 bekommt Agnes Rieger eine Karte ihrer älteren Schwester Felicitas aus Bokeloh bei Wunstorf. Sie und der Vater haben das KZ Lamsdorf überlebt, der Vater Arbeit in einem Kalischacht gefunden.
„Dass wir Kinder zusammen überlebt haben, war für mich ein Wunder. Dass ich nun auch Vater und Schwester wiedersah, das war für mich ein zweites Wunder.“, Tillo Nestmann