Universalgenies im Clinch

Der Disput zwischen Niels Stensen und Gottfried Wilhelm Leibniz

Es dürfte eine der interessantesten Begegnungen der Geistesgeschichte gewesen sein – und eine der heftigsten. Zwischen Niels Stensen und Gottfried Wilhelm Leibniz geht es am Hof des Herzogs von Hannover um nichts weniger als die ersten und die letzten Fragen der Menschheit.

Das Jahr 1677, Anfang November, am Hofe des hannoverschen Herzogs Johann Friedrich, der ein gutes Jahrzehnt zuvor zum katholischen Glauben übertrat: Zwei Universalgelehrte kreuzen ihren Lebensweg. Zum einen der gerade mal 30-jährige Gottfried Wilhelm Leibniz. Seit einem Jahr Rat und Bibliothekar am Hof, zuvor schon Diplomat, Mathematiker und  Philosoph. Über ihn wird gesagt werden, dass er der universale Geist seiner Zeit gewesen sei. Einer, der nicht nur Geistesgeschichte schrieb. Er selbst soll von sich behauptet haben: „Beim Erwachen hatte ich schon so viele Einfälle, dass der Tag nicht ausreichte, um sie niederzuschreiben.“

Zum anderen: Niels Stensen, von Rom an den Hof gesandt. Als Priester und Bischof für die Nordischen Missionen soll Stensen, der selbst 1665 konvertierte,  inmitten des protestantischen Landes die versprengten Reste der katholischen Gemeinden bis hinaus nach Schweden vereinen und wieder aufbauen. Eine Aufgabe, die zum Scheitern verurteilt ist.

Niels Stensen und Gottfried Leibniz

Zwei Geistesgrößen, die unterschiedlicher kaum sein könnten: der selige Priester und Bischof Niels Stensen (links) und der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz begegneten sich für drei Jahre am Hof in Hannover.

Leibniz, so wird berichtet, empfängt den acht Jahre älteren Stensen durchaus mit Wohlwollen – und auch Bewunderung. Nicht den Geistlichen, sondern den Naturwissenschaftler, der Stensen vorher war. Einst hatte er Medizin studiert, die Tränen- und Speicheldrüsen des menschlichen Körpers als Erster beschrieben. Noch heute wird die von ihm entdeckte Ohrspeicheldrüse im Kiefer-Mund-Bereich als „Stensen-Gang“ bezeichnet. Später wandte sich der Universalgelehrte der Geologie zu. Wilhelm von Humboldt, Naturforscher, Bildungsreformer und Staatsmann in Preußen, bezeichnete ihn ein Jahrhundert später gar als „Vater“ dieser Wissenschaft.

Das ist die Ausgangslage dieser Begegnung zweier Geistesgrößen, die kaum unterschiedlicher sein können. Ein Zusammentreffen, das fast zwangsläufig in einer Kollision von Überzeugungen, Meinungen und wohlbedachten Beleidigungen endet.

 

„Der Nation nach Däne, der Religion nach römisch ...“

Aus Briefen geht hervor, dass Leibniz große Pläne mit dem „der Nation nach Däne, der Religion nach römischen Herrn Nikolaus Stenonius“ hatte. Er, der jüngere, der durchaus von sich überzeugte Gelehrte, will zweierlei. Erstens will er Stensen auf den Weg der Naturwissenschaften zurückbringen. Er scheitert. Stensen fühlt sich voll und ganz dem Schöpfer verpflichtet. Ein Freund von Leibniz, der Helmstedter  Arzt und Rechtshistoriker Hermann Conring, urteilt: „Möchte Stensen uns auch ein solides Wissen über die heiligen Dinge schenken, möchte er es verstehen, das göttliche Wort zu orthotomieren (zurechtschneiden)  wie er beseelte Körner anatomieren (zerschneiden) kann.“

Das führt Leibniz zu seinem zweiten Vorhaben. Er will Stensen für seine ehrgeizigste Idee gewinnen. Leibniz will als „Pacidius“ (Friedensbringer) nichts weniger als die Wiedervereinigung der christlichen Konfessionen. Er entstammt einem frommen Haus. Durchaus beseelt war Leibniz von einem Gedanken: Die Wissenschaft müsse dem Leben dienen und das Leben Gott. „Ich habe die mathematischen Wissenschaften nicht um sich selbst studiert, sondern um von ihnen Gebrauch zu machen ... zum Nutzen der Frömmigkeit“, schrieb er. Noch frisch ist die Erinnerung an den 1648 durch den Westfälischen Frieden beendeten 30-jährigen Krieg.

Leibniz will durch die genaue Unterscheidung des absolut Notwendigen und des weniger Wesentlichen die Grundlage für einen Religionsfrieden legen. Dieses Wesentliche findet er im Vaterunser und im Glaubensbekenntnis. Gott werde, davon ist Leibniz überzeugt, allen Menschen guten Willens die nicht-fundamentalen Irrtümer verzeihen.

Doch hier beginnt die Kontroverse. Stensen verwirft das Glaubensfundament. Er fragt danach, wer denn die Wahrheiten, die die Konfessionen verbinden, bestimme. An einer Stelle schreibt der Bischof: „Ja, wenn die Religion eine Erfindung der Menschen wäre, wäre diese Lehre sehr klug und eine Quelle großer Ruhe.“

 

Kirchenpolitik und Himmelreich

Hier wird einer der zentralen Unterschiede zwischen Leibniz und Stensen deutlich. Leibniz, durchdrungen vom religiösen und philosophischen Wissen, denkt in den Kategorien kirchlicher und politischer Organisation. Stensen dagegen strebt nach innerlich-religiöser Erkenntnis. Der Glaube ist für ihn vor allem Glaubensleben. Religionspolitik trifft Gebet, philosophische Vernunft die Offenbarung des Himmelreiches.

Je strenger der Gegensatz zutage tritt, desto schärfer werden die Argumente – und Worte. Für Leibniz denkt Stensen zu konfessionell klein, wenn er sich an die Werte der römischen Kirche klammere, mutmaßt puritanische Finsternis. Fast schon spöttisch klingt es, wenn Leibniz mutmaßt: ,,Ich weiß, Herr Stensen hat Gesinnungen einer großen Tugend. Der Eifer für eine Partei, die er für das Beste hält, lässt ihn Dinge sagen, die er unter anderen Verhältnissen streng tadeln würde.“ Oder Leibniz fragt den einstigen Mediziner und Anatom Stensen, ob er denn die katholische Wahrheit im Mark der Knochen gefunden hat. Stensen kontert: Die Knochen hätten ihn zur Gotteserkenntnis geführt – und weg von philosophischen Anmaßungen. Die Kontrahenten schenken sich nichts. Wiederholt.

Doch ihre Wege trennen sich überraschend. Im Dezember 1679 stirbt Herzog Johann Friedrich. Sein Bruder, somit wieder ein Lutheraner, übernimmt die Regentschaft. Das nordische Vikariat verliert den Rückhalt, Stensen wird als Weihbischof nach Münster gerufen. Dort gerät er in Konflikt mit der oft aus dem Adel stammenden höheren Geistlichkeit. Als einfacher Priester geht er nach Hamburg und  Schwerin – und stirbt dort 1686. Mit gerade 48 Jahren. Er gerät in Vergessenheit. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. 1988 schließlich wird er von Papst Johannes Paul II. seliggesprochen.

Leibniz dagegen reist im Auftrag des Welfenhauses durch Europa. Er gründet Akademien, entwickelt die Endlosförderkette für den Bergbau, konstruiert eine Rechenmaschine. Schließlich  gibt er aus seinen mathematischen wie philosophischen Forschungen eine Antwort darauf, warum Gott Leiden zulässt: Gott habe „die beste aller möglichen Welten geschaffen“. Die letzte Frage ist geklärt.

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