Schwester Sigrada Tod an der Grenze

Hildesheim/Hötensleben (wal). Mit einer privaten Initiative will der Küster der Basilika St. Godehard in Hildesheim, Jürgen Wolke, der 1951 an der deutsch-deutschen Grenze zu Tode gekommenen Schwester Sigrada Witte einen Ort des Gedenkens schaffen. Es geht ihm dabei nicht um Schuld oder Anklage, sondern um Erinnerung.

8. August 1951: Schwester Sigrada, Franziskanerin von der ewigen Anbetung zu Olpe und im Kindergarten des katholischen Waisenhauses von Oschersleben tätig, macht sich auf den Weg nach Hötensleben. Sie möchte dort erst eine befreundete Familie besuchen und dann – heimlich – die Grenze zwischen der sowjetischen und der britischen Zone übertreten. Die 51 Jahre alte Ordensfrau wollte ins heimische Meggen (nahe Olpe) zurück – ihr Vater will am 12. August seinen 80. Geburtstag feiern. Nur: Der bei der Kreispolizei Oschersleben beantragte Interzonenpass, der jeweils 30 Tage Gültigkeit hatte, war noch nicht ausgestellt. Schwester Sigrada wollte aber dennoch zu ihrem Vater. Schwarz, ohne Dokumente über die Interzonengrenze.

Gedenkstein in Hötensleben

Ein Kreuz und ein Gedenkstein erinnern jetzt in Hötensleben an Schwester Sigrada Witte, die 1951 unter bis heute ungeklärten Umständen ums Leben kam, als sie die damals noch offene deutsch-deutsche Grenze überquerte. Foto: Rüdiger Wala

Unterschiedliche Darstellungen

11. August 1951: Im katholischen Pfarramt in Oschersleben klingelt das Telefon. Die Polizei teilt mit, dass Schwester Sigrada tot bei Hötensleben aufgefunden worden sei. Zwei Mitschwestern, Angelona und Faustina, machen sich auf den Weg zur Polizei und bekommen dort die Tasche von Schwester Sigrada ausgehändigt. Und sie erfahren mehr vom Tod ihrer Mitschwester: Sie war am Tag zuvor gegen 18 Uhr von einem Schäfer gefunden worden. Der russische Kommandant wurde hinzugezogen, ein Arzt gerufen. Zwei Kinder des Waisenhauses der Olper Franziskanerinnen, die zur Erholung in Hötensleben bei Ferieneltern waren, hätten die Schwester erkannt und seien weinend zur katholischen Krankenschwester gelaufen. Eine offensichtliche Todesursache sei nicht festzustellen. Das Ergebnis einer anschließenden Obduktion lautet Herzschlag, zudem wurde eine Druckstelle am Oberarm festgestellt.

Eine andere Darstellung ist heute noch in Hötensleben bekannt. Demnach haben die beiden auf Besuch weilenden Oscherslebener Waisenkinder ihren Ferieneltern etwas anderes erzählt. Nach ihrer Darstellung haben sie Schwester Sigrada tot auf der Abraum-Kippe des Braunkohletagebaus gesehen – mit einem kleinen, blutverkrusteten Loch an der Schläfe.

Eine Folge der Teilung Deutschlands

Jürgen Wolke will nun an den Tod von Schwester Sigrada, die mit bürgerlichem Nachnamen Witte hieß, erinnern. Es geht dem Küster der Hildesheimer Basilika St. Godehard bei seiner privaten Initiative nicht darum, nachträglich eine Schuldfrage zu stellen oder anzuklagen: „Ihr Tod war eine Folge des geteilten Deutschlands“, sagt Wolke, der selbst in Hötensleben geboren ist und zum Zeitpunkt der Geschehnisse erst sechs Jahre alt war. Er will an die viele Jahre im Kindergarten des Waisenhauses des Ordens wirkende Schwester erinnern.

Am 23. Juli wurde ein drei Meter hohes Kreuz und ein Gedenkstein gesegnet. Zuvor wurde in der katholischen Kirche St. Josef und St. Augustinus in Hötensleben ein Gottesdienst gefeiert. Wolke hat mit seiner schon historischen Spendenbüchse in Form einer Kirche einiges an Spenden gesammelt, etwa 2000 Euro müssen aufgebracht werden. Aber auch Zuwendungen in Form von Sachspenden und Arbeitsunterstützung hat Wolke erfahren: Der Stein wird beispielsweise von der Braunschweigischen Kohlen-Bergwerke AG gestiftet. Sollte es bei den Spenden zu einem Überschuss kommen, wird dieser an die Olper Franziskanerinnen weitergereicht. Der Orden unterhält in Oschersleben ein Altenheim.

 

Hötensleben/Hildesheim (wal). „Die Erinnerung an Tote ist ein Akt der Barmherzigkeit“, würdigte die Provinzoberin der Olper Franziskanerinnen, Schwester Alexa Weismüller, ein nun gesegnetes Mahnmal für ihre Ordensschwester Sigrada Witte. Mit einem gut drei Meter hohen Holzkreuz und einem Stein mit den Lebensdaten der Ordensfrau wird an die unter bis heute ungeklärten Umständen August 1951 zu Tode gekommene Schwester erinnert. Die damals 51-jährige Franziskanerin, die im Waisenhaus in benachbarten Oschersleben tätig war, wollte heimlich die damals noch offene Grenze zwischen beiden deutschen Staaten überqueren.

Ihr Ziel: das heimische Meggen (nahe Olpe) – ihr Vater wollte wenige Tage später seinen 80. Geburtstag feiern. Sie kam dort nie an. Schwester Sigrada wurde tot an der Grenze gefunden. Offizielle Ursache: ein Herzinfarkt.

Zeitzeugen erzählen andere Geschichte

Doch Zeitzeugen erzählen eine andere Geschichte: „Ich war damals elf Jahre alt und habe in dem Gelände gespielt – was Jungen in dem Alter eben so machen“, berichtet Günther Drewes im Gespräch mit der KirchenZeitung. Auch an jenem verhängnisvollen Tag war der 67-Jährige, dessen Eltern in Grenznähe einen Garten unterhielten, mit Freunden unterwegs. „Wir haben dann einen Schuss gehört.“ Zuerst dachten sie an Jäger. „Doch dann entdeckten wir eine Frau in Ordenstracht, die blutüberströmt am Boden lag.“ Russische Soldaten hätten die Jungen umgehend weggescheucht. „Wären wir 20 Jahre oder älter gewesen, hätte man uns bestimmt eingesperrt“, ist sich Drewes sicher. Als er später seiner Mutter von den Ereignissen berichtete, schärfte die ihm ein, ja nichts davon anderen zu erzählen. „Daher ist die Geschichte fast in Vergessenheit geraten.“

Auch Horst Paritz kennt diese inoffizielle Version der Geschichte: „Wir hatten 1951 Ferienkinder aus dem Waisenhaus der Schwestern zu Gast“, erzählt der 84-Jährige. Die Kinder seien aufgeregt nach Hause gekommen, weil sie ‚ihre‘ Schwester Sigrada an der Grenze gesehen hätten – mit einem Loch in der Schläfe. „Wir konnten damals ja nichts sagen“, betont der Hötenslebener, „doch ein Herzinfarkt war das sicher nicht.“

Beide Zeitzeugen waren auch Gast der feierlichen Einweihung des Mahnmals, das auf eine Initiative von Jürgen Wolke zurückgeht. Wolke ist Küster der Hildesheimer Basilika St. Godehard und gebürtiger Hötenslebener. Zum Zeitpunkt der Ereignisse war er allerdings erst sechs Jahre alt. Wolke hatte bei seiner Initiative stets betont, dass es ihm nicht um Schuld oder Anklage, sondern um Erinnerung gehe. „Der Tod von Schwester Sigrada ist eine Folge der deutsch-deutschen Teilung und darf daher nicht vergessen werden.“

Das unterstrich auch die Provinzoberin Schwester Alexa bei der Segnung der Gedenkstätte, die mit einem Gottesdienst in der bis zum letzten Sitzplatz gefüllten Kirche St. Josef und St. Augustinus und einer Prozession begonnen hatte: „Hier wird Schwester Sigrada namentlich gedacht und sie gerät nicht in Vergessenheit.“ Kein Opfer von Gewalt darf vergessen werden. Das Vergessen bereitet den Boden für die Unmenschlichkeit. Mit diesem Ort wurde in Hötensleben eine Stätte des Innehaltens und stillen Gedenkens geschaffen. Kein Mensch habe es verdient, namenlos bestattet zu werden.

26 Menschen kamen ums Leben

Für den Vorsitzender des Hötenslebener Grenzdenkmalvereins, Achim Walther, hat die Gedenkstätte noch weitergehende Bedeutung: „Zwischen 1945 und 1952 sind 26 Menschen in der Feldmark bei Hötensleben zu Tode gekommen – auch unter ungeklärten Umständen“. Nun sei ein Ort entstanden, an dem nicht nur Schwester Sigradas gedacht werden kann, sondern aller Opfer.

Initiator Jürgen Wolke zeigte sich vor allem vom großen Zuspruch der Hötenslebener beeindruckt: „Die Anteilnahme hat mich sehr gefreut.“ Ob die im Zuge seines Einsatzes öffentlich gewordenen Augenzeugenberichte noch zu einem gerichtlichen Verfahren führen, müsse noch überlegt werden. Eines aber ist Wolke klar: „Was der Gedenkstätte noch fehlt, ist eine Hinweistafel zur Erklärung der Ereignisse.“

Unser Bistum: 
Hildesheim/Hötensleben, Niedersachsen